Q&A's

Fragen und Antworten zu Tierversuchen

Das Ziel von «Forschung für Leben» und diesen Q&A's ist es sich in wissenschaftliche Debatten einzubringen. Der Verein greift aktuelle Themen im biomedizinischen und pflanzenphysiologischen Bereich auf, und möchte einen Beitrag an die Beantwortung von ethnischen Fragen, die sich daraus ergeben, leisten.

 

 

Serie I   Häufige Fragen

1.1. Wieso sind Tierversuche nötig?

Die Grundlagenforschung versucht, physiologische und medizinische Fragen über Menschen und Tiere zu beantworten. Für komplexe Fragestellungen, welche z.B. die Wechselwirkung zwischen Organen im Körper oder zwischen Erregern und höheren Lebewesen betreffen, müssen Versuche zwingend an einem Organismus untersucht werden, um relevante Resultate zu erhalten. Diese Resultate bilden die Basis für weiterführende, mehr angewandte Forschungsrichtungen. So wäre ohne die Grundlagenforschung die klinische Forschung, welche sich auf spezifische Krankheiten und die dazu nötigen Behandlungen konzentriert, nicht möglich. Auch in der klinisch orientierten Forschertätigkeit sind die Forschenden oft auf Krankheitsmodelle an Organismen angewiesen. Ohne die Erkenntnisse der Grundlagenforschung ist die Medikamentenentwicklung kaum erfolgreich.

Neue Medikamente müssen von Gesetzes wegen an Tieren getestet werden, damit sie überhaupt auf dem Markt zugelassen sind. Sicherheitsbestimmungen verlangen, dass Wirkungen und Nebenwirkungen zum Schutz der Patienten möglichst umfassend an Tieren abgeklärt worden sind, bevor sie in Patienten getestet werden können. Hierbei geht es v.a. um die Frage der Unschädlichkeit (akute oder chronische Toxizität, Verursachen von Krebs, Missbildungen). Erfolgreich im Tiermodell getestete Medikamente sind bislang die einzige Möglichkeit, mit möglichst geringem Risiko neue Medikamente bei Menschen zu erproben.


1.2. Sind alle Tierversuche gleich belastend für das Tier?

Tierversuche werden in Schweregrade von 0–3 eingeteilt, welche die Belastung der Tiere in einem bestimmten Versuch widerspiegeln.

Schweregrad 0 (rund 42% aller Tierversuche in der Schweiz): Das Allgemeinbefinden der Tiere wird nicht erheblich beeinträchtigt, z.B. Blutentnahme für diagnostische Zwecke, Injektion eines Medikaments unter die Haut. Deshalb brauchen Tierversuche mit Schweregrad 0 keine Bewilligung, müssen jedoch gemeldet werden.

Schweregrad 1 (rund 36% aller Tierversuche in der Schweiz): Dem Tier wird eine kurzfristige oder eine leichte Belastung zugefügt, wie z.B. das Injizieren eines Medikaments unter Anwendung von Zwang.

Schweregrad 2 (rund 21% aller Tierversuche in der Schweiz): Dem Tier wird eine mittelgradige, kurzfristige oder eine leichte, mittel- bis langfristige Belastung zugefügt, wie z.B. die operative Behandlung eines künstlich herbeigeführten Knochenbruchs an einem Bein.

Schweregrad 3 (rund 2% aller Tierversuche in der Schweiz): Das Tier wird einer schweren bis sehr schweren, oder einer mittelgradigen, mittel- bis langfristigen Belastung ausgesetzt, z.B. die Erzeugung einer tödlich verlaufenden Infektions- oder Krebserkrankung ohne vorzeitige Euthanasie.

 

1.3. Was versteht man unter den 3R-Prinzipien in Zusammenhang mit Tierversuchen?

Die 3R-Prinzipien  – Replacment, Reduction, Refinement – beschreiben den ethischen Handlungsspielraum von Tierversuchen in der Forschung.

Replacement (Ersatz) bedeutet, dass die Forschenden tierexperimentelle Studien durch alternative Methoden ersetzen, sofern dies möglich ist und entsprechende Alternativmethoden vorhanden sind. Unter Alternativmethoden versteht man die Forschung in Stammzellen- und Gewebekulturen sowie mittels Computermodellen.

Reduction (Reduktion) bedeutet, dass die Anzahl der benötigten Tiere pro Versuch so gering wie möglich gehalten wird. Voraussetzung dafür ist eine statistisch gut vorbereitete Versuchsanordnung. Es hat sich allerdings gezeigt, dass im Bemühen, die Anzahl der Tiere so niedrig wie möglich zu halten, die Gefahr steigt, dass keine relevanten Resultate erzielt werden und die Versuche wiederholt werden müssen.

Refinement (Verfeinerung, Verbesserung) besteht aus einer breiten Palette von Massnahmen, die alle dazu führen sollen, die Belastung der Tiere zu vermindern. Zu diesen Massnahmen gehören die Haltungsformen von Tieren, die Anreicherung der Tierkäfige mit Gegenständen, bestimmte Operationsmethoden, Schmerzstillung und der Umgang mit den Tieren ganz allgemein. Im Refinement liegt das grösste Potenzial für die Umsetzung der 3R in der Grundlagenforschung.

Die Forschenden selbst haben grösstes Interesse, die Tiere so schonend wie möglich und gemäss der 3R-Prinzipien zu behandeln. Denn Tierversuche sind sehr teuer und nur gesunde Tiere, die sich wohlfühlen, liefern zuverlässige Forschungsresultate.

 

1.4. Sind die Ergebnisse von Tierversuchen relevant für die Gesundheit der Menschen?

Um Menschen nicht zu gefährden, werden bestimmte Tierarten aufgrund ihrer Ähnlichkeit zum Menschen für Tierversuche gewählt. Sehr oft regulieren diese Tiere gewisse Prozesse im Körper gleich oder zumindest ähnlich wie der Mensch. Genetisch veränderte Tiere, meist Mäuse, werden gezüchtet, um diese Ähnlichkeiten zu verstärken. In diesen Tiermodellen lassen sich Krankheiten und grundlegende physiologische Prozesse studieren, die in Zell- und Gewebekulturen nicht möglich sind.

Tiere werden auch für die Entwicklung von Medikamenten eingesetzt. Spätestens in der präklinischen Phase werden neue Medikamente an Tieren getestet, um mögliche Nebenwirkungen von Medikamenten frühzeitig zu erkennen. Viele Medikamente, welche ursprünglich für Menschen entwickelt wurden, werden heute für die Behandlung von Tieren mit Krankheiten wie Herzproblemen, Diabetes und Krebs in der Tiermedizin eingesetzt. Die Forschung am Tier ist deshalb immer auch gleich eine Forschung für das Tier.

Die Grundlagenforscher interessieren sich ebenfalls für spezifische Eigenschaften von verschiedenen Spezies, die auch für Menschen von Vorteil sein könnten. So fragen sie sich z.B., weshalb ein Nacktmull kein Krebs bekommt oder wie Zebrafische verletzte Herzgewebe erneuern. Die Erkenntnisse dienen letztendlich ebenfalls der Gesundheit der Menschen.

 

1.5. Wieso nicht ganz auf Alternativmethoden umsteigen?

Verschiedene Alternativmethoden werden zusammen mit Tierversuchen durchgeführt und reduzieren so die Anzahl der benötigten Tiere. Unter Alternativmethoden versteht man Stammzellen- und Gewebekulturen (in vitro), aber auch computergestützte Simulationen (in silico). Trotzdem sind gewisse Fragen immer noch nur mit Tieren beantwortbar. Bevor es jedoch zu Tierversuchen kommt, muss im Versuchsantrag detailliert aufgezeigt werden, dass Alternativmethoden in Betracht gezogen wurden, diese aber die gestellten Fragen nicht beantworten können. Es ist entsprechend illegal, Tierversuche durchzuführen, für welche eine Alternative vorhanden ist.

Bei der Arzneimittelentwicklung werden Medikamente grösstenteils mit Alternativmethoden getestet und nur diejenigen Entwicklungen, die vielversprechend sind, an Tieren (präklinische Phase) und, falls erfolgreich, später an Menschen (klinische Phase) getestet.

 

1.6. Werden Tierversuche jemals ganz ersetzt werden können?

Diese Frage beantworten Grundlagenforschende mit einem klaren Nein. Die Komplexität eines menschlichen Organismus und das Zusammenspiel der Organe sind derart hoch, dass dies wohl nie durch künstliche Systeme vollständig ersetzt werden kann. Zusätzlich erschwert der Zeitfaktor ein solches Unterfangen, da Krankheiten sich meistens über eine längere Zeit entwickeln.

Zwar besteht die Hoffnung, etwa durch wissenschaftliche Methoden wie Organ-on-a-chip oder durch verbesserte Versuchsplanung, die Anzahl der benötigten Tiere zu verringern. Doch Zellkulturen oder isolierte Organe können einen Organismus mit seinen komplizierten physiologischen Prozessen nie abbilden. Die Zellkulturen sind ausserdem nur kurzlebig. Die Computersimulationen hingegen sind nur so gut, wie sie mit Daten, die im Tiermodell erarbeitet worden sind, unterstützt werden. Aber auch dann: Ein Computermodell gibt nur Aufschluss über Prozesse, die wir im Ansatz schon kennen. Neues, das die Realität widerspiegelt, kann er nicht aus sich selbst heraus erfinden.

 

Serie II   Ethik bei Tierversuchen

2.1. Darf man Tieren für medizinische und wissenschaftliche Zwecke Leid zufügen?

Spätestens seit den Anfängen der Tierschutzbewegung im 19. Jahrhundert gelten empfindungsfähige Tiere als schutzwürdig, zumindest soweit sie vom Menschen gehalten und genutzt werden. Im Zusammenhang mit der Empfindungsfähigkeit ist auch die Frage nach der «Leidensfähigkeit» zentral. Dieses Kriterium setzt der tierexperimentellen Forschung Grenzen. Um diese Grenzen auszuloten, braucht es eine Güterabwägung. Jeder Forscher muss die Frage beantworten, ob sein Experiment und die den Tieren zugefügte Belastung die angestrebte Minderung von Leiden bei Menschen rechtfertigt. Dies wird durch eine Spezialkommission geprüft. Um diesem Aspekt ausreichend Rechnung zu tragen, wird auch viel davon abhängen, wie die Tiere vor und nach dem Versuch behandelt werden, ob sie weiterhin Angst und Stress ausgesetzt bleiben oder ob ihnen hinreichend viel Freiraum zum Ausleben ihrer physischen und sozialen Bedürfnisse zur Verfügung steht.

Aus ethischer Perspektive ist es darum unerlässlich, dem Prinzip der 3R vermehrt Geltung zu verschaffen. Die 3R bedeuten: Replace – Ersetzen von Tierversuchen durch Alternativen; Reduce – Vermindern der Anzahl der in Tierexperimenten verwendeten Tiere; Refine –Verminderung der Belastung bzw. Verbesserung der Lebenssituation der Tiere. Ein Verbot von Tierversuchen ist im Hinblick auf den medizinischen Fortschritt keine Option.

 

2.2. Darf man Tiere in der biologischen und biomedizinischen Grundlagenforschung nutzen?

In der Tierethik stellt sich die Frage, ob Versuche mit Tieren sich auch dann rechtfertigen lassen, wenn solche Versuche primär dem Erkenntnisgewinn auf der Ebene der Grundlagenforschung dienen. Tierschutzkreise argumentieren, dass sich die mit einem Tierversuch zusammenhängenden Schmerzen und Leiden nur dann rechtfertigen lassen, wenn die damit gewonnenen Erkenntnisse dazu beitragen, bislang kaum behandelbare Leiden und Krankheiten künftig heilen zu können.

Nun wird man kaum ernsthaft bestreiten können, dass die Grundlagenforschung dank der Erforschung grundlegender Mechanismen in einem komplexen Organismus wie das Tier bisher eine unschätzbare Grundlage und somit einen Beitrag zur Verminderung und sogar zur Heilung von menschlichen Leiden geleistet hat. Es gibt keinen vernünftigen Grund, weshalb das nicht auch in Zukunft so sein soll.

 

2.3. Dürfen Non-Human Primates (NHP) in der biologischen und biomedizinischen Grundlagenforschung eingesetzt werden?

Tierversuche mit NHP (Makaken, Rhesusaffen, Paviane usw.) tragen entscheidend zu essenziellen biomedizinischen Erkenntnissen bei, ebenso zur Entwicklung neuer Behandlungskonzepte, insbesondere im Hinblick auf schwere Erkrankungen neurologischen Ursprungs wie Parkinson, Alzheimer, Epilepsie, multiple Sklerose, Chorea Huntington usw.

Die neurowissenschaftliche Forschung ist in den letzten Jahren zu einer Erfolgsgeschichte geworden, die weitere wissenschaftliche und therapeutische Durchbrüche erwarten lässt. So stammt etwa der grösste Teil unserer Kenntnisse über die Funktion einzelner Hirnareale aus Experimenten mit NHP, da wichtige Strukturen im Hirnstamm, im Kleinhirn sowie im Grosshirn erst auf der Entwicklungsstufe von Primaten in der gleichen spezialisierten Art wie beim Menschen funktionieren. In der Schweiz geraten aber gerate Versuche mit nichtmenschlichen Primaten immer mehr unter Druck (Versuche mit Menschenaffen sind weitestgehend verboten). Im übrigen Europa erlaubt die revidierte «EU-Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere» (2010/63/EU) den Einsatz von Tieraffenmodellen in der Forschung, speziell auch in der Grundlagenforschung, explizit (Art.5 und 8). Sollten die Versuche mit nichtmenschlichen Primaten in der Schweiz dereinst verboten werden, droht dem Schweizer Forschungsplatz ein nachhaltiger Wettbewerbsnachteil.

 

Serie III Tierversuche an Affen

3.1. Experimente an Affen haben dazu beigetragen, immenses Leiden zu verhindern, beispielsweise bei Poliomyelitis (Kinderlähmung):

Bis ein Impfstoff in den 1950-er und 1960-er Jahren gefunden wurde, tötete die Poliomyelitis, kurz Polio genannt, jedes Jahr mehr als 10'000 Kinder. Unzählige erlitten lebenslange körperliche Beeinträchtigungen. Die Krankheit verursacht immense Schmerzen im ganzen Körper. 1988, vor der weltweiten WHO Impfungs-Kampagne, erkrankten immer noch 350'000 Kinder jährlich an Polio. 2013 wurden noch 400 Fälle registriert. Die Ausrottung dieser Krankheit schien zum Greifen nahe. Bis es soweit war, waren zahlreiche Versuche an Affen nötig, um einen geeigneten Impfstoff zu entwickeln. Allerdings nimmt seit einigen Jahren zum grossen Bedauern der Wissenschaftler die Impfrate ab, weshalb sich diese hochgefährliche Krankheit wieder ausbreitet.

 

3.2. Experimente an Affen haben dazu beigetragen, immenses Leiden zu verhindern, beispielsweise bei Parkinsons:

Zu Beginn der 1990-er Jahre wurde dank Versuchen an Makaken (Primatenart) bewiesen, dass Stimulationen in gewissen Bereichen des Gehirns helfen können, Störungen bei Bewegung und Balance, wie sie oft bei Parkinsons Patienten auftreten, zu beheben. Dieser Effekt wurde bald auch an Menschen getestet. Die heute genannte «Tiefe Hirnstimulation» wird routinemässig an Parkinsons-Patienten angewendet und zeigt exzellente Ergebnisse. Der Prozess ist ein ähnlicher wie bei den Makaken: Elektroden, die im Gehirn implantiert sind, generieren sanfte elektronische Impulse, die helfen, das Zittern, welches typischerweise mit Parkinsons assoziiert ist, zu stoppen und Bewegungen zu verlangsamen.

 

3.3. Experimente an Affen haben dazu beigetragen, immenses Leiden zu verhindern, beispielsweise bei Schlaganfällen:

Das sogenannte Constraint Induces Movement Training (CIMT) kann Schlaganfallpatienten helfen, den grössten Teil ihrer Beweglichkeit zurück zu gewinnen. Dabei wird der Patient gezwungen, das betroffene Körperglied intensiv zu bewegen. Dies geschieht, indem das nicht-betroffene Körperteil über einen längeren Zeitraum eingeschränkt wird. Das gelähmte wird in dieser Zeit intensiv benutzt und trainiert. Durch ständig wiederholte Übungen wird die Entwicklung neuer neuronaler Pfade im Gehirn induziert. Die Patienten lernen dadurch, die gelähmten Glieder wieder einzusetzen. Die Methode wurde erstmals an Ratten und dann an Makaken getestet. Schliesslich konnte sie mit grossem Erfolg auch im Menschen eingesetzt werden.

 

3.4. Experimente an Affen haben dazu beigetragen, immenses Leiden zu verhindern, beispielsweise bei Ebola:

Während der Ebola-Krise sind 28’000 Menschen erkrankt und 11’300 sind am Virus gestorben. Um ihre Vermehrung sicher zu stellen, dringen Viren in Wirtszellen ein und zwingen diese ihr Erbgut zu übernehmen. Die Folge davon ist, dass die umprogrammierten Wirtszellen selber die schädlichen Viren produzieren. Nun wird weltweit unter Hochdruck nach einem Impfstoff gegen das Ebolavirus geforscht. Zwei Impfstoffe stehen im Vordergrund, die erfolgreich an Affen getestet wurden. Bereits wurden auch klinische Studien am Menschen erfolgreich durchgeführt. Man erwartet, dass der von einer kanadischen Forschergruppe entwickelte Impfstoff 2018 zugelassen wird. Die Testung der Impfstoffe an Affen waren unabdingbar, bevor er bei Menschen zum Einsatz kam, da es sich um völlig neue, abgeschwächte Impfstoffviren handelte.

 

Serie IV Konsequenzen eines Verbotes

4.1. Was hätte ein Verbot von Tierversuchen in westlichen Ländern zur Folge?

Im westlichen Europa sind Tierversuche äusserst streng geregelt. Würden Tierversuche in Europa verboten oder noch weiter erschwert, würde dieser wichtige Zweig der biomedizinischen Forschung in andere Länder, z.B. nach Asien, ausgelagert werden, wo das Tierwohl keine hohe Priorität geniesst. Dies bedeutet beispielsweise, dass die Standards bei der artgerechten Tierhaltung sinken würden. Des Weiteren würde eine Abschaffung von Tierversuchen in Europa sich negativ auf die Qualität der Experimente auswirken. Dies würde wiederum die akademische und industrielle biomedizinische Forschung, die in mehreren Ländern Europas sehr stark ist, behindern. In Europa wären weitere Fortschritte in der biomedizinischen Forschung und die Entwicklung von neuen, lebensrettenden Medikamenten wohl kaum mehr möglich.

 

4.2. Könnten alle Tierversuche durch alternative Methoden ersetzt werden?

Die kurze Antwort ist «Nein». Natürlich sind gewisse Alternativmethoden äusserst vielversprechend und können Tierversuchen vorgezogen werden. Vor allem in Vorversuchen bei der Entwicklung und dem Testen von Medikamenten und in der Grundlagenforschung sind Alternativmethoden sehr wichtig. Diese Methoden sind wertvoll und werden auch weitgehend genutzt – wenn die Forschenden isolierte biologische Mechanismen beobachten wollen, oder wenn fundierte Voraussagen von Krankheiten und deren Behandlungen gemacht werden sollen. Diese Voraussagen werden dann in vollen, lebenden Systemen getestet. Der Einsatz von synthetischen Organoiden zum Beispiel haben grosses Potential für die Analyse von komplexen Prozessen. Jedoch erlaubt uns diese Methode nur, Mechanismen in einer Zelle oder einer Gruppe von Zellen zu beobachten und nicht, wie sich diese Mechanismen im gesamten Organismus zwischen verschiedenen Systemen (Nerven-, Endokrin-) verhalten. Viele biologische und pathophysiologische Mechanismen und Interaktionen sind noch nicht vollständig verstanden. Deshalb ist der Anwendungsbereich von in vitro-Methoden oder Computersimulationen begrenzt.

Zusammengefasst bedeutet dies, dass für das Verstehen der komplexen Systeme eines Körpers und die Interaktionen zwischen Substanzen und Organen sowie das Studium von lebensbedrohlichen Krankheiten (Infekte, neurodegenerative Erkrankungen, Stoffwechselprozess, etc.) Tierversuche immer noch notwendig sind, aber oft mit Alternativmethoden kombiniert werden können.

 

4.3. Welche Konsequenzen müssten Gegner von Tierversuchen im Alltag tragen?

Die sehr hohe Qualität der medizinischen Versorgung in Europa und in Amerika basiert auf dem Fortschritt von biomedizinischer Forschung. Tierversuche sind in der biomedizinischen Forschung unabdingbar. Ein Verbot von Tierversuchen würde zukünftige biomedizinische Fortschritte und Entwicklungen von neuen Medikamenten behindern. Die Bevölkerung muss sich klar darüber werden, dass im Falle eines Tierversuchsverbots auf lebensrettende Medikamente verzichtet werden müsste.

 

Serie V Q&A mit Suzann-Viola Renninger

5.1. Im Artikel 120 der Bundesverfassung der Schweizer Eidgenossenschaft ist von der «Würde der Kreatur» die Rede. Was ist damit gemeint?

Als 1992 der Begriff «Würde der Kreatur» nach einer Volksabstimmung in die Schweizer Verfassung aufgenommen wurde, war das ein gewagter Schritt. Denn niemand wusste so genau, was damit nun gemeint sei. Bisher kannten die Staatsverfassungen nur den Begriff der Menschenwürde. Wie war es auszulegen, dass nun auch der Würde der Kreatur – also der Tiere, Pflanzen und anderer Organismen – Rechnung getragen werden muss?

Nach jahrelangen Diskussionen setzte sich für Tiere der Vorschlag durch, dass ihre Würde dann respektiert sei, wenn ihnen ein «inhärenter Wert» oder «Eigenwert» zugeschrieben und sie daher um ihrer selbst willen moralisch berücksichtigt werden.

Doch auch dies ist noch äusserst auslegungsbedürftig, wird nach den Folgen für den konkreten Umgang mit Tieren gefragt. 2005 formulierte daher das Schweizer Tierschutzgesetz, dass die Würde des Tieres dann missachtet werde, «wenn eine Belastung des Tieres nicht durch überwiegende Interessen gerechtfertigt werden kann».

Damit wird deutlich, dass die Würde eines Tieres nicht absolut ist. Ein entscheidender Unterschied zur «Menschenwürde», die 1945 Eingang in die Charta der Vereinten Nationen fand! Denn die Würde des Menschen ist nicht verhandelbar und darf nicht durch andere Güter oder Werte relativiert oder eingeschränkt werden.

In einer weiteren Konkretisierung legt das Tierschutzgesetz fest, dass eine «Belastung» vorläge, «wenn dem Tier insbesondere Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden, es in Angst versetzt oder erniedrigt wird, wenn tiefgreifend in sein Erscheinungsbild oder seine Fähigkeiten eingegriffen oder es übermässig instrumentalisiert wird».

Die Praxis hat gezeigt, dass die Empfindungs- und Leidensfähigkeit für gewöhnlich das entscheidende, moralisch relevante Beurteilungskriterium ist. Der Würde der Kreatur ist also bei Tieren Rechnung getragen, wenn ihr Leiden minimiert und nur dann in Kauf genommen wird, wenn wichtige Interessen des Menschen dies rechtfertigen.

Dr. Suzann-Viola Renninger, Universität Zürich

 

5.2. Ist es ethisch vertretbar, dass in der medizinischen Forschung Tiere für Versuche verwendet werden?

Die Beantwortung dieser Frage setzt einen Grundsatzentscheid voraus. Wenn wir akzeptieren, dass der Mensch mehr zählt als das Tier, kann daraus unter bestimmten Bedingungen eine ethische Rechtfertigung von Versuchen abgeleitet werden. Wenn wir hingegen Tieren den gleichen Wert wie Menschen zuschreiben, dann ist das meist mit dem Anspruch verbunden, dass sie gleiche Grundrechte wie Menschen haben. Die zurzeit durchgeführten Versuche wären daher bis auf wenige Ausnahmen ethisch nicht länger vertretbar und müssten umgehend gestoppt werden. Übrigens hiesse das auch, dass Nutz-, Zoo- und Haustierhaltung eine nicht mehr hinnehmbare Freiheitsberaubung darstellen würde. Das Töten von Tieren für den Teller der Menschen wäre dem Mord gleichzusetzen. Und die Frage, inwiefern Menschen Lebensraum beanspruchen dürfen, den Tiere nutzen, müsste detailliert verhandelt werden.

Die Tierschutzgesetzgebung der Schweiz wie auch aller anderen europäischen Länder ruht auf der ersten Haltung: Das menschliche Wohlergehen wird als wichtiger eingeschätzt als das Wohlergehen der Tiere. Oder auch: Humans first. Doch nicht unter allen Umständen. Vielmehr gibt die Schweiz, deren Tierschutzgesetzgebung weltweit als eine der strengsten gilt, genaue Vorgaben, wann die Interessen der Menschen die der Tiere dominieren dürfen. Es muss immer eine Interessens- oder Güterabwägung vorgenommen werden.

Ein entscheidendes Kriterium dabei ist, dass das Leiden der Tiere minimiert wird. Doch wie weit muss und soll das gehen? Das ist eine Angelegenheit der gesellschaftlichen Einigung, die wieder und wieder in Frage gestellt und neu justiert werden muss. Über die letzten Jahrzehnte ist der Trend zu beobachten, dass das Tierleid immer stärker in die Waagschale fällt und sich der Umgang mit Tieren in den experimentellen Wissenschaften einschneidend verändert hat.

Zu wenig, meinen viele Tierschützer und die Tierrechtler. Weitestmöglich, meint die Forschergemeinschaft und verweist auf die Selbstverpflichtung durch das 3R-Konzept, das Thema einer der nächsten Folgen unserer Serie sein wird.

Dr. Suzann-Viola Renninger, Universität Zürich

 

5.3. Was ist das sogenannte 3R-Konzept, zu dem sich die Forschung mit Tieren verpflichtet hat?

Replace. Reduce. Refine. Die Anfangsbuchstaben dieser drei Aufforderungen gaben dem Konzept den Namen: 3R. Das Konzept existiert seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Es dauerte, bis es breit anerkannt wurde, doch inzwischen ist die Forschung in der Schweiz und aller anderen EU-Staaten gesetzlich verpflichtet, es umzusetzen.

Replace fordert dazu auf, die Versuche mit Tieren so weit wie möglich durch andere Methoden zu ersetzen: durch Zell- und Gewebekulturen oder auch Computersimulationen.

Reduce verlangt, die dennoch nötigen Versuche auf ein Minimum zu beschränken, methodisch also überlegt zu arbeiten und sorgfältig zu planen und somit immer im Sinn zu behalten, dass Tiere kein beliebig zur Verfügung stehendes Verbrauchsmaterial sind.

Refine verpflichtet die Forschenden, die Belastung der Versuchstiere zu minimieren. Denn die Belastung ist – das liegt in der Natur der Versuche – nicht zu vermeiden. Zucht, Transport, Haltung, das eigentliche Experiment und gegebenenfalls auch die Tötung müssen so vollzogen werden, dass die Tiere möglichst wenig leiden und somit möglichst wenig Schmerzen empfinden.

Für die Forschung mit Tieren bedeutet das: Die Versuche werden nur dann bewilligt, wenn keine alternativen Methoden zur Verfügung stehen und zwei Superlative eingehalten werden: Möglichst wenig Tiere bei möglichst geringer Belastung. Damit das gelingt, werden Forschungsprojekte finanziert, die die dafür nötigen Methoden und Verfahren entwickeln. Verantwortlich dafür ist in der Schweiz seit 2018 das 3R-Kompetenzzentrum der swissuniversities.

Dr. Suzann-Viola Renninger, Universität Zürich

 

5.4. Was bedeutet Güterabwägung bei Tierversuchen?

Ein gesundes, erfülltes, glückliches Leben wünschen sich wohl die meisten Menschen. Es gilt als ein hohes Gut, wenn nicht sogar als das höchste. Und wie sieht es bei Tieren aus? Was wünschen sie sich?

Mit dem Begriff Glück ist man in der Tierethik vorsichtig und konzentriert sich auf die vermuteten Interessen der Tiere. Eine breite Strömung der Tierethik geht davon aus, dass sie das Interesse haben, sich wohl zu fühlen und nicht zu leiden.

Was aber ist, wenn wir Menschen meinen, wir könnten uns nur wohl fühlen und glücklich sein, wenn wir Tiere züchten und halten? Um sie als Gesellschafter und Zierwerk einzusetzen? Um sie zu schlachten und zu verspeisen? Um sie in wissenschaftlichen Versuchen zu verwenden, sodass wir Krankheiten besser verstehen und behandeln können? Gilt dann immer: Nur unser Glück zählt?

Nein, keinesfalls, ist die Antwort der Schweizer Gesetzgebung und auch die der anderen EU-Staaten. Glück und Interessen der Menschen dürfen nicht unbeschränkt zu Lasten der Tiere gehen. Daher wurde per Gesetz die sogenannte Interessens- oder Güterabwägung eingeführt. In der einen Waagschale liegen das Glück der Menschen und ihr Interesse an einem gesunden, langen Leben. Auf der anderen Seite befindet sich die Waagschale für das Wohl der Tiere.

Wenn der erwartete Erkenntnisgewinn aus Tierversuche hoch ist und das vermutete Leid der Tiere im Vergleich dazu gering, dann senkt sich die Schale zugunsten des Menschen und somit für den Tierversuch. Das braucht Sensibilität, Erfahrung und Augenmass. Denn weder tragen wir wie die Göttin Justitia eine Augenbinde, noch können Tiere für ihre Interessen und ihr Glück plädieren. Daher hat der Schweizer Gesetzgeber einen Entscheidungsprozess mit Gremien vorgeschrieben, in denen u.a. sowohl die Forschenden wie auch Personen zu Wort kommen, die Interesse und Rechte der Tiere vertreten.

Dr. Suzann-Viola Renninger, Universität Zürich